Wir leben in einer Welt der Zahlen. Fast alles lässt sich heute genau berechnen – die Größe der Erde ebenso wie die eines gefährlichen Virus. Für ein genaues Wirtschaften sind exakte Mengenangaben nötig – ob bei der Herstellung eines Medikaments oder bei einer GPS-gesteuerten Düngung auf dem Acker. Und natürlich will der Landwirt nicht nur ungefähr wissen, wieviel Kühe oder Schafe er hat, sondern er braucht es ganz genau. Wie sonst soll er einen Verlust feststellen oder Subventionen beantragen? Ein Bereich entzieht sich allerdings dieser fast totalen Kontrolle: Das ist der der Wildtiere.
Wieviel Wild lebt im Revier?
Jäger interessieren sich aber schon für die Häufigkeit von Wildtieren, die in ihrem Revier oder ihren Hegegemeinschaft vorkommen. Aber Tierpopulationen in freiem Gelände und ohne Markierung sind schwer zu zählen. Vieles bleibt Spekulation. In einem Feldrevier ist das etwas einfacher als in einem deckungsreichen Gelände. Auch die Lebensweise des Wildes spielt eine Rolle: Ist es tag- oder nachtaktiv, lebt es kleinräumig territorial oder großräumig in Rudeln.
Projekt Wildtier-Informationssystem
Der Deutsche Jagdverband hat sich zumindest für das Niederwild seit 2002 um eine Erfassung bemüht. Das Projekt heißt „Wildtier-Informationssystem der Länder Deutschlands“, kurz WILD genannt. Mit Unterstützung engagierter Revierbetreuer werden jedes Jahr die Entwicklung von Weiserarten zusammengetragen. Zunächst war es der Hase, später kamen jahrweise andere Arten dazu: Rebhuhn, Enten, Gänse, Fuchs oder Dachs. Auch die Entwicklung invasiver Arten, wie Waschbär, Marderhund oder Nutria, lassen sich ebenfalls dadurch erfassen. Natürlich können diese Zahlen nicht absolut präzise sein, aber es lässt sich ein Trend erkennen, aus dem Grundlagen für die weitere Behandlung dieser Arten abzulesen sind.
Wie gut lassen sich Schalenwild-Bestände erfassen?
Beim Schalenwild ist es mit dem Zählen schwieriger. So wird hauptsächlich von den bisherigen Jagdstrecken in dem jeweiligen Revier ausgegangen. Diese Abschusszahlen unterliegen aber vielen anderen Komponenten und lassen keine genauen Rückschlüsse über Populationsgrößen zu. Vor allem bei einer eher großräumigen Nutzung des Lebensraumes und kleinen Jagdreviergrößen wird die Einschätzung der Bestandsgrößen schwierig. Ganz schwer fällt sie bei Rehwild in deckungsreichem Gebieten. Obwohl sie mit ihrem kürzeren Äsungsrhythmus häufiger bei gutem Licht zu sehen sind, verbergen Wälder mit reichhaltigem Unterwuchs meistens mehr Rehe als angenommen. Ein in den 50ziger Jahren des letzten Jahrhunderts durchgeführter wissenschaftlicher Versuch von H. Strandgaard auf der dänischen Halbinsel Kalø (nahe Aarhus) belegt das in eindrucksvoller Form.
Die überraschenden Ergebnisse aus dem Versuch Kalø
Der Rehwildbestand auf der rund 1.000 Hektar (680 ha Feld und 340 ha Wald) großen, nur durch einen Damm mit dem Festland verbundenen Insel wurde von mehreren Fachleuten auf 70 Stück geschätzt. Bei dem danach vorgenommenen Totalabschuss kamen schließlich 213 Rehe zur Strecke. Ein in dieser Größenordnung vollkommen unerwartetes Ergebnis. Es gibt wohl keine Schalenwildart in Europa, die sich besser unsichtbar machen kann, wie das Reh. Einige Reviere in Deutschland, die dadurch ermutigt ihren Abschuss einfach mal verdoppelten, stellten ebenfalls fest, dass sich über Jahre stets so viel Rehe erlegen ließen. Gejagt wurde scharf, aber waidgerecht. Das Ziel war, die natürliche Ressource Reh besser zu nutzen, aber nicht – wie es heute manchmal scheint – zu vernichten. Das Reh wurde eben nicht zum Feind, sondern eher zum größeren Lieferanten von Jagdmöglichkeiten und Verwertung der Beute.
Viele Zählmethoden, aber keine Patentlösung
Es gibt neben der visuellen Wahrnehmung viele Möglichkeiten, Wildvorkommen einzuschätzen: Erfassung der Baue von Fuchs oder Dachs zum Beispiel, oder Fraßspuren an Pflanzen, das Verhören von Stimmen von Rebhuhn oder Auerhahn, Abfährten oder Abspüren bei Schnee, das Zählen von Losung auf Probeflächen, und auch die Zahl von Straßenopfer gibt Auskünfte über die Dichte von Wildtieren in dem Raum. Die zunehmende Häufigkeit von überfahrenen Wölfen ist aktuell dafür ein guter Gradmesser. Durch neue Technik mit Wildkameras, Wärmebild und Nachtsicht wird sicher noch mehr Genauigkeit in diese Erfassungen kommen. Gleichzeitiger Einsatz von Scheinwerfer und Wärmebild macht deutlich, wieviel vorher alles im Dunklen blieb.
Nicht nur auf das verlassen, was man sieht
Es bleibt jedoch dabei: Für die Bestandsgröße von Wildtieren wird es immer nur eine Annäherung geben. Damit müssen Jäger und Wildbiologen leben. Das Beispiel Rehwild zeigt, wie schwierig es auch heute noch ist, einen Wildbestand in seiner kompletten Größe zu erfassen. Nur die Ergebnisse aus den vergangenen Jahren wieder abzuschreiben, ist wenig sinnvoll. Und sich darauf zu verlassen, was man lediglich sieht, wäre naiv. Der Jäger sollte alle Anzeichen deuten können, um einen ungefähren Überblick zu erhalten. Aber trotz aller Ungenauigkeiten bei der Wildtiererfassung: Hätte die Jagd noch den gleichen Reiz, wenn wir absolut genau wüssten, wieviel Wild und vielleicht auch noch welche Individuen sich im Revier aufhalten?